Das Kastensystem in Indien ist ein hierarchisches soziales Ordnungssystem, das Menschen basierend auf ihrer Geburt in verschiedene Gruppen einteilt.1 Obwohl es offiziell abgeschafft wurde, beeinflusst es weiterhin viele Aspekte des gesellschaftlichen Lebens. Für viele Hindus ist es bis heute mit Religion, Tradition und Familienregeln verknüpft, auch wenn das moderne Indien gleichzeitig eine Demokratie mit Gleichheitsgrundsatz ist.
🔹Soziales Ordnungssystem in Indien
🔹 Teilt Menschen ab Geburt in feste Gruppen ein
🔹 Bestimmt traditionell Beruf, Status und Heirat
🔹 Baut auf religiösen Ideen wie Varna & Reinheit auf
🔹 Heute offiziell abgeschafft, aber im Alltag oft noch spürbar
🔹 Besonders wichtig: Unterschied zwischen Varna (4 Hauptgruppen) und Jati (tausende Geburtsgruppen)
Für Außenstehende wirkt das Kastensystem oft kompliziert: vier Hauptgruppen, unzählige Untergruppen, dazu Begriffe wie Varna, Jati, „Dalits“ oder „Unberührbare“. In diesem Artikel schauen wir uns Schritt für Schritt an, wie dieses System ursprünglich entstanden ist, wie es aufgebaut ist, welche Folgen es für das Leben von Menschen hat und welche Rolle es im heutigen Indien noch spielt.
Ursprung und historische Entwicklung des Kastensystems
Das Kastensystem entstand nicht von heute auf morgen, es entwickelte sich über viele Jahrhunderte hinweg, genau wie der Hinduismus. Die frühen Grundlagen liegen in der vedischen Zeit (ab ca. 1500 v. Chr.), als im Rigveda erste Vorstellungen von gesellschaftlichen Gruppen auftauchten. Besonders wichtig war dabei die Idee der vier Varna („Farben“), die später als die vier Hauptkasten bekannt wurden: Brahmanen, Kshatriyas, Vaishyas und Shudras.
Ein zentraler mythologischer Ursprung findet sich im berühmten Purusha-Mythos: Der Urmensch Purusha wird geopfert, und aus seinen Körperteilen entstehen die vier Varna – aus seinem Kopf die Brahmanen, aus den Armen die Krieger, aus den Schenkeln die Händler und aus den Füßen die Diener.2 Dieser Mythos lieferte lange Zeit eine religiöse Begründung für Hierarchien.
ca. 1500 v. Chr.
Beginn der vedischen Zeit
Erste Varna-Ideen im Rigveda, frühe soziale Einteilungen.
ca. 1200–1000 v. Chr.
Purusha-Hymne entsteht
Mythologische Grundlage der vier Varna.
ca. 2000–100 n. Chr.
ASI/ANI-Vermischung und spätere Abgrenzung
Genetische Studien zeigen: Heiratsgruppen werden endogam → Grundlage der Jatis.
300–600 n. Chr.
Gupta-Reich
Kastensystem wird politisch gefestigt; Brahmanen erhalten großen Einfluss.
ca. 200 v. Chr.–200 n. Chr.
Manusmriti
Religiös-rechtliches Werk, das das Kastensystem ausführlich beschreibt.
18.–20. Jahrhundert
Britische Kolonialzeit
Kasten werden verwaltungstechnisch erfasst; traditionelle Strukturen verfestigen sich.
ab 1950
Moderne Verfassung Indiens
Kastendiskriminierung verboten, aber soziale Realität bleibt komplex.
Moderne Forschungen zeigen jedoch, dass auch Bevölkerungsbewegungen und Vermischung eine große Rolle spielten. Genetische Studien unterscheiden zwei große Gruppen in Indien, die ASI (Ancestral South Indians) und die ANI (Ancestral North Indians).3 Beide mischten sich über Jahrtausende hinweg, bis sich um ca. 100 n. Chr. zunehmend abgeschlossene Heiratsgruppen bildeten. Das war ein wichtiger Schritt hin zur späteren Kastenordnung.
In der klassischen Zeit gewann das Kastensystem weiter an Bedeutung. Besonders während des Gupta-Reiches (4.–6. Jh. n. Chr.) wurden viele soziale Regeln politisch gefestigt. Die Priesterkaste der Brahmanen spielte hierbei eine große Rolle: Sie schufen religiöse Texte (z. B. die Manusmriti), die das System legitimierten.
Mit der britischen Kolonialzeit bekam das Kastensystem eine neue Dynamik. Die Briten versuchten, die indische Gesellschaft zu „kategorisieren“, und machten Kasten zu einer offiziellen Verwaltungseinheit. Dadurch wurden viele Strukturen sogar stärker verankert, als sie im Alltag zuvor gewesen waren.
Bei uns lernst du auch mehr über die vielfältige Götterwelt im Hinduismus.
Struktur und Klassifizierung innerhalb des Kastensystems
Das indische Kastensystem besteht aus zwei Ebenen: den vier großen Varna, die eher theoretische Hauptgruppen darstellen, und den Jati, den tatsächlichen Geburtsgruppen, nach denen Menschen im Alltag eingeteilt werden. Gemeinsam haben sie ein System geschaffen, das über Jahrtausende das soziale Leben in Indien geprägt hat.
Die vier Hauptkasten (Varna)
Die Idee der Varna taucht im Rigveda und im Purusha-Mythos auf. Sie bilden die älteste Struktur des Kastensystems:
🟦 Brahmanen – die Priester & Gelehrten
- Galt als höchste Varna
- Zuständig für Rituale, religiöse Lehren und das Studium der Veden
- Traditionell Hüter heiliger Texte und spirituelle Autorität
🟥 Kshatriyas – die Krieger & Herrscher
- Könige, Soldaten, Fürsten, Verwaltungsbeamte
- Verantwortlich für Schutz, Regierung und militärische Aufgaben
🟨 Vaishyas – Händler & Bauern
- Kaufleute, Handeltreibende, Landwirte
- Wichtig für Wirtschaft, Handel und Wohlstand der Gesellschaft
⬛ Shudras – Arbeiter & Handwerker
- Dienstleistende Berufe, Handwerk, Landwirtschaft
- Ursprünglich diejenigen, die „dienende Tätigkeiten“ übernahmen
- Stellen bis heute einen großen Teil der Bevölkerung
Diese vier Varna sind ein theoretisches Modell, das vor allem in religiösen Texten auftaucht. Im Alltag spielte jedoch etwas anderes die viel größere Rolle: Jati.
Jati: Das eigentliche Kastensystem
Während die vier Varna vor allem in alten Texten beschrieben werden, spielen im Alltag seit Jahrhunderten die Jati die entscheidende Rolle. Unter diesem Begriff versteht man die realen sozialen Gruppen, in die Menschen hinein geboren werden.
Von diesen Jati gibt es nicht nur vier oder zehn, sondern tausende, verteilt über ganz Indien. Jede Jati hat ihre eigenen Traditionen, Regeln und oft auch eine bestimmte historische Berufsgruppe, die ihr zugeordnet wurde.
🎨 Farben & Symbole
Weiß = Reinheit, Wissen → Brahmanen
Rot = Macht & Tapferkeit → Kshatriyas
Gelb = Handel & Wohlstand → Vaishyas
Schwarz = Arbeit & Dienst → Shudras
Farben tauchen in Kleidung, Ritualen und Darstellungen bis heute auf.
🔔 Rituale & Reinheit
Reinheit gilt als zentrales Konzept des Systems.
Tempel, Feste, Segnungen und Reinigungsrituale spiegeln alte Hierarchien wider.
Bestimmte Tätigkeiten galten traditionell als „unrein“, was einzelne Gruppen ausgrenzte.
🏷️ Namen als Kastensignal
Viele Nachnamen deuten bis heute auf Jatis hin
(z. B. Sharma → Brahmane, Yadav → OBC, Dhobi → Wäscher).
In Städten verliert das an Bedeutung, aber im ländlichen Raum bleibt es wichtig.
🛕 Tempelkultur
Zugang zu Tempeln war historisch streng geregelt.
In modernen Städten offen für alle – auf dem Land teilweise weiterhin eingeschränkt.
Reine und unreine Rollen wirken im religiösen Alltag oft noch nach.
📚 Literatur, Mythologie & Popkultur
Indische Epen (z. B. Mahabharata, Ramayana) enthalten kastenspezifische Rollenbilder.
Moderne Filme, Serien und Bücher thematisieren Diskriminierung, Dalit-Aktivismus und sozialen Wandel.
Innerhalb einer Jati wird traditionell geheiratet, was bedeutet, dass viele dieser Gruppen über lange Zeit endogam geblieben sind. Das erklärt auch, warum Jatis regional so unterschiedlich aussehen können: Eine Jati, die in einem Bundesstaat hoch angesehen ist, kann in einem anderen kaum Bedeutung haben. Sie prägt dort nicht nur Beruf und Alltag, sondern auch soziale Netzwerke, Feste und sogar Essgewohnheiten.
Wichtig ist die Unterscheidung zwischen Varna und Jati:
Varna beschreibt vier große, theoretische Kategorien, während Jati die tatsächlichen sozialen Strukturen des Kastensystems bildet. Eine Person kann zum Beispiel der Vaishya-Varna zugerechnet werden und gleichzeitig zu einer bestimmten Händler-Jati gehören, die nur in einer kleinen Region existiert.
Dalits oder „Unberührbare“
Die Dalits – früher „Unberührbare“ genannt – stehen außerhalb der vier Varna und werden deshalb oft als „Avarna“ („ohne Varna“) bezeichnet. Obwohl Varna das bekannte Modell aus alten Texten ist, spielt im Alltag vor allem die Zugehörigkeit zu einer Jati eine Rolle. Dalits gehören also zu vielen unterschiedlichen Dalit-Jatis, die je nach Region eigene Traditionen und soziale Rollen haben.
Historisch waren diese Jatis mit Berufen verbunden, die als „unrein“ galten, etwa Müllentsorgung, Reinigung oder die Verarbeitung von Tierhäuten. Daraus entstanden starke soziale Vorurteile, die Dalits bis heute betreffen. In Großstädten haben sich ihre Chancen verbessert: Viele Dalits studieren, engagieren sich politisch oder arbeiten in modernen Berufen. Auf dem Land hingegen sind Diskriminierungen weiterhin verbreitet, etwa der eingeschränkte Zugang zu Tempeln, Brunnen oder bestimmten Wohnbereichen.
Eine der wichtigsten Stimmen im Kampf gegen Kastendiskriminierung war B. R. Ambedkar, selbst Dalit und Mitautor der indischen Verfassung. Er setzte sich für Rechte, Bildung und Gleichheit ein und leitete 1956 eine große Konversionsbewegung zum Buddhismus, um Dalits einen Weg aus der sozialen Ausgrenzung zu eröffnen. Auch heute kämpfen Dalit-Bewegungen für bessere Lebensbedingungen und gegen die starren Grenzen des Kastensystems.
Soziale Praktiken und Auswirkungen des Kastensystems
Das Kastensystem prägt seit Jahrhunderten den Alltag vieler Menschen in Indien, nicht nur durch religiöse Ideen, sondern vor allem durch soziale Regeln. Besonders wichtig ist der Gedanke von Reinheit und Unreinheit. Bestimmte Tätigkeiten oder Berührungen galten früher als „unrein“ und sollten vermieden werden, um den eigenen sozialen Status nicht zu „verschmutzen“. Diese Vorstellung beeinflusste, wer mit wem essen durfte, wen man besuchen konnte oder wessen Haus man betrat.
Ein zentrales Element ist die Endogamie, also das Heiraten innerhalb einer eigenen Jati. Bis heute erwarten viele Familien, dass ihre Kinder jemanden aus derselben sozialen Gruppe wählen. Die Redewendung „roti aur beti“ („Brot und Tochter“) fasst diese Norm zusammen: Man teilt Essen und gibt Kinder nur innerhalb der eigenen Gemeinschaft weiter.
🔹 Reinheit & Unreinheit: Bestimmt, wer mit wem essen, arbeiten oder feiern durfte.
🔹 Endogamie: Heirat fast ausschließlich innerhalb der eigenen Jati.
🔹 „Roti aur beti“: Brot und Tochter bleiben in der eigenen Gruppe.
🔹 Traditionelle Berufe: Viele Tätigkeiten waren über Generationen fest an Jatis gebunden.
🔹 Räumliche Trennung: In vielen Dörfern getrennte Viertel, Brunnen und Tempelzugänge.
🔹 Soziale Sanktionen: Ausgrenzung oder sogar Gewalt, wenn Regeln gebrochen wurden.
🔹 Wandel: In Städten lösen sich viele dieser Regeln zunehmend auf.
Traditionell waren viele Berufe fest an bestimmte Jatis gebunden: Priester, Krieger, Händler oder Arbeiter. Auch handwerkliche Tätigkeiten wie Töpfern, Webern oder Lederverarbeitung wurden von bestimmten Gruppen ausgeführt. Heute ist das rechtlich nicht mehr vorgeschrieben, aber auf dem Land spielen diese Zuordnungen oft noch eine große Rolle.
Die soziale Ordnung zeigt sich auch räumlich: In manchen Dörfern leben verschiedene Jatis in getrennten Vierteln, nutzen getrennte Brunnen oder haben unterschiedliche Zugänge zu Tempeln und Schulen. Obwohl die indische Verfassung Diskriminierung verbietet, bestehen solche Strukturen in Teilen des Landes fort.
In extremen Fällen kann das Kastensystem sogar zu sozialer Kontrolle, Sanktionen oder Gewalt führen, z. B. wenn Menschen kastenspezifische Regeln brechen oder eine „unerlaubte“ Ehe eingehen. Gleichzeitig verändert sich das System durch Urbanisierung und Bildung langsam, besonders in Städten.
Das Kastensystem im modernen Indien
Offiziell ist das Kastensystem in Indien abgeschafft. Die indische Verfassung von 1950 verbietet jede Form der Diskriminierung aufgrund der Kastenzugehörigkeit.4 Besonders wichtig sind die Schutzkategorien SC (Scheduled Castes) und ST (Scheduled Tribes), die historische Benachteiligung abmildern sollen. Darüber hinaus gibt es für die OBC (Other Backward Classes) zusätzliche Förderungen, etwa bei Studienplätzen oder Stellen im öffentlichen Dienst.
Trotz dieser Gesetze bleibt die Umsetzung im Alltag jedoch unterschiedlich erfolgreich.
Realität heute

In Städten verliert die Kastenzugehörigkeit an Bedeutung. Dort zählen Ausbildung, Einkommen und soziale Netzwerke oft mehr als die Herkunft. In ländlichen Regionen hingegen prägt das Kastensystem weiterhin viele Lebensbereiche, von der Nachbarschaftsstruktur bis zur Partnerwahl.
Auch in der Politik spielen Kasten eine große Rolle: Parteien werben gezielt bestimmte Kasten an, und Reservierungsquoten entscheiden darüber, wer Zugang zu Bildung und staatlichen Jobs bekommt.
An Universitäten, darunter den renommierten IITs, zeigen Studien, dass Studierende aus SC/ST-Gruppen noch immer Diskriminierung erleben. Gleichzeitig werden dort Beratungsstellen und Schutzgremien eingerichtet, um Chancengleichheit zu fördern. Selbst im Internet lebt Kastendenken weiter: Viele Heiratsportale bieten Suchfilter nach Jati, Varna oder „community“ an, vor allem für traditionelle Familien ein wichtiges Auswahlkriterium.
Wandel und neue Entwicklungen
Die indische Gesellschaft befindet sich im Umbruch. Urbanisierung, Globalisierung und eine wachsende Mittelschicht haben dazu geführt, dass Jati-Grenzen in vielen Bereichen weniger strikt sind.
Gleichzeitig erleben klassische Muster wie die Sanskritisierung – das soziale Aufsteigen durch Übernahme höherkastiger Lebensweisen – weiterhin Bedeutung.
Eine besonders dynamische Kraft ist der moderne Dalit-Aktivismus, der über Social Media, Kunst, Politik und NGOs für Gleichberechtigung kämpft. Bildung, digitale Vernetzung und neue Arbeitsfelder sorgen langfristig für mehr Durchlässigkeit – auch wenn Kastendenken noch nicht verschwunden ist.
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Quellen
- Bayly, S. (2001). Caste, Society and Politics in India from the Eighteenth Century to the Modern Age. Cambridge University Press.
- Michel, P. (2008). Rig-Veda: das heilige Wissen Indiens.
- Moorjani, P., Thangaraj, K., Patterson, N., Lipson, M., Loh, P., Govindaraj, P., Berger, B., Reich, D., & Singh, L. (2013). Genetic evidence for recent population mixture in India. The American Journal of Human Genetics, 93(3), 422–438. https://doi.org/10.1016/j.ajhg.2013.07.006
- Bayly, S. (2001). Caste, Society and Politics in India from the Eighteenth Century to the Modern Age. Cambridge University Press.









